Vor 30 Jahren: Fotoreportage Cuba
Vor mittlerweile 30 Jahren, zwischen 21.04. bis 03. Juni 1994, entstand meine Fotoreportage mit dem Titel „Kuba: Kinderalltag zwischen Propaganda und Straße„. Sie war gleichzeitig auch das Thema meiner Diplom-Arbeit an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.
Neben den zahlreichen Farfotografien entstand auch eine >> Schwarzweiss-Fotoserie.
Begleitend schrieb ich ein Reisetagebuch, angeregt durch Prof. Herbert Heckmann, welches sich für mich auch als eine großartige Ergänzung und Begleitung meiner bildnerischen Arbeit herausstellte. Auszüge daraus geben einige atmosphärische Einblicke in meine Erlebnisse und Abenteuer im Verlauf der besonderen Zeit der „period especial“ in Havanna und Umgebung wieder. Jeden Tag aufs Neue.
In den nächsten 6 Wochen werde ich hier chronologisch 42 ausgewählte kurze Textpassagen vorstellen, und mit einer Auswahl von Fotografien aus meinem Archiv begleitend illustrieren:
Martes, el 03. de Mayo
In Centro Habana. Wohnsituation.
Ein Junge spricht mich auf dem Weg nach Centro Habana an, und führte mich nach einer kurzen Unterhaltung in eine nahegelegene Wohnsiedlung.
Er ging mit mir durch einen völlig heruntergekommenen dreistöckigen grauen Wohnblock. Obwohl nur einige wenige Strassen von meiner Wohnung entfernt, war ich plötzlich von Armut und Tristesse umgeben, die ich mit eigenen Augen bisher so noch nicht gesehen habe.
Es gab kein Licht, die Zwischenwände waren einfache Bretterverschläge, hinter denen die Bewohner mit ihren Nutztieren auf engsten Raum zusammen wohnten. Ich fühlte mich wie von tausend Augen beobachtet und konnte kein einziges Foto machen.
Lunes, el 02. de Mayo.
Einschränkung der Transport + Verkehrsmöglichkeiten.
Die fehlenden Transportmöglichkeiten im ganzen Land stellten sich als ein großes Hindernis für die Planung meiner Fotoprojekte mich heraus. Im ganzen Land fehlt es überall an Treibstoff, Fahrzeugen oder Ersatzteilen. Das öffentliche Verkehrssystem ist stark eingeschränkt. Ich muss improvisieren und aus dem Moment heraus nach weiteren Möglichkeiten für meine Fotoreportage finden. Einige private Taxistas bieten ihre Dienste gegen harte Dollar an.
Domingo, el. 1. de Mayo 1994
Land und Natur
Heute ist „Tag der Arbeit“. In der Stadt herrscht Sonntagsruhe.
Ich nutze die Gelegenheit für einen Ausflug ins Umland, und bin ganz fasziniert von der Landschaft und der subtropischen Vegetation.
Leichte Hügel, dazwischen landwirtschaftliche Flächen, die auch für den Tabakanbau der berühmten kubanischen Zigarren genutzt werden.
Schlanke Palmen strecken ihre Stämme in den Himmel. Alles wirkt sehr transparent.
Sabado, el 30. de Abril 1994
1. Mai Manifestation in Artemisa.
Der Umzug der Menschen in der engen Straße fühlte sich viel intensiver als am Vortag auf der 23sten in der Hauptstadt an.
Die Arbeiter und Bauern, welche die lokal ansässigen volkseigenen Betriebe repräsentierten, führten stolz das Erreichte der Planwirtschaft vor.
Jede Brigade wurde von der Tribüne aus einzeln vorgestellt und stürmisch begrüßt.
Die 1. Mai Manifestation erreichte ihren Höhepunkt durch das ekstatische und laute Trommeln und Musizieren der vielen angereisten Plantagearbeiter.
Viernes, el 29. de Abril 1994:
1. Mai Manifestation auf der 23sten in La Habana.
Die offiziellen Festivitäten zum Tag der Arbeit, die traditionel am 1. Mai stattfinden, sind dieses Jahr vorverlegt worden. Als Begründung wird die „périod especial“ genannt, und die damit verbundene angespannte wirtschaftliche Lage Kubas. Anstatt einer zentralen Veranstaltung auf der Plaza de la Revolución, werden dieses Jahr kleinere Aufmärsche und Solidaritätsbekundungen in den einzelnen Municipios veranstaltet.
Nachdem die Menschen an der Tribüne vorbeimarschiert sind, versammelten sich eine Gruppe davor und tanzte im Rhythmus der anheizenden Musik unter einem Plakat von Fidel. Ein kräftiger Mann, ich denke im Nachhinein wohl ein offizieller Ordner, schrie mich mit rotem Kopf grollend an, ich, der von der internationalen Presse solle diesen Begeisterungssturm gefälligst fotografieren.
Jueves, el 28. de Abril.
Schulbesuch in Vedado.
Die Kinder drängelten sich um mich und meine Kamera herum. Ihre Finger hinterließen Abdrücke auf meinem Weitwinkel-Objektiv. Erst auf den Zuruf ihrer Lehrerin stellten sie sich zu einer Gruppe rund um eine Büste des Nationalhelden José Marti zusammen. Darüber wehte die kubanische Nationalfahne.
Miércoles, el 27. de Abril 1994:
Unterricht und Strandleben der ukrainischen Kinder. Zweiter Tag mit Tatjana.
Nach einer Reifenpanne an Feliberto’s Schiguli kamen wir gerade noch rechtzeitig im Lager an, und wurden sehr freundlich wie alte Bekannte begrüßt. Ich durfte erneut Tatjana und weitere Kinder während der therapeutischen Behandlung, des Schulunterrichts und in der Mensa fotografieren.
Am Nachmittag begleitete ich sie und ihre Freunde zum Meer direkt vor der Tür, wo sie scheinbar unbeschwert am wunderschönen Sandstrand spielen konnten.
Vom Director erfuhr ich, dass man hier direkt am Meer mehr Tourismus ansiedeln möchte. Direkt gegenüber seien gerade zwei Häuschen an Familien aus Mexico und Kanada vermietet. So seien die Pläne für die allmähliche Verwandlung eines ehemaligen Jugend- und Pionierlager in ein karibisches Urlaubsparadies.
Martes, el 26. de Abril 1994:
Ukrainische Kindern aus der Gegend des Atomreaktorunglücks von Tschernobyl in Tarará, Ciudad de los Pioneros, Jose Marti. Erster Tag mit Tatjana.
Einer meiner Anträge beim C.P.I. hat geklappt. Ich darf ukrainische Kinder und Jugendliche treffen und fotografieren, die nach der Nuklearkatastrophe im Jahr 1986 in Tschernobyl als Strahlenopfer im Rahmen eines Kinderhilfsprojektes medizinisch in Kuba therapiert werden.
Fahrt ins etwa 30 km entfernte Tarará, östlich von La Habana direkt am Strand gelegen. Die übliche Bürokratie verzögert den Eintritt in die Ciudad de los Pioneros. Obwohl wir offiziell über das kubanische Pressebüro angemeldet sind, läßt sich der Direktor mißtrauisch erst umfangreich zuerst von Feliberto, und dann erneut von mir auf englisch, erklären, was ich denn machen wolle.
Tatjana ist gerade mal fünfeinhalb Jahre alt. Das Mädchen liegt mit einem kleinen Plüschhäschen auf einer Krankenpritsche. Fünf rötliche Wärmelampen strahlen auf ihren Körper, welcher von zahlreichen Hautwunden und Verbrennungsspuren übersäht ist. Ein Serum, welches die Krankenschwester darauf sprüht, soll dabei helfen die bestrahlte und kranke Haut wieder zu heilen.
Wir verständigen uns gemeinsam abwechselnd auf englisch und spanisch, Tatjana’s Mutter übersetzt für ihre Tochter auf russisch. Meine schulischen Russischkenntnisse sind leider schon zu lange her.
Lunes, el 25. de Abril 1994:
Frühsport. Konferenz im C.P.I.. Supermarkt-Besuch.
Ich eilte zu einem Treffen in die UPEC , um Felix zu treffen. Auf dem Weg dorthin, hörte ich in einem kleinem Park rhythmisch . . . duo, trés, cuatro,… uno, duo,… und entdeckte eine Frühsportgruppe in Aktion. Ein sportlicher und grauhaariger Mann mit offenen leichten Turnschuhen animierte die anwesende Damen mit seinem Charme. Und es gelang ihm auch richtig prächtig die Damen trotz schwüler Witterung in Schwung zu bringen.
Nach dem Treffen im C.P.I. bekam ich anschließend einen Einblick in eine Devisen-Tienda für die Nomenklatura. Meine Kamera mußte ich am Eingang leider abgeben. Für Dollars kann man in diesem abgeschotteten Supermarkt fast alles kaufen. Wie an einem langen Samstag in einem westlichen Einkaufszentrum, drängelten sich die Menschen mit überladenen Einkaufswägen durch die Schluchten der warengefüllten Regale. Was für ein Kontrast zu dem mageren Angebot in normalen Geschäften, in denen die gewöhnliche Bevölkerung für Pesos oder rationierte Ware auf Libreta einkaufen darf.
(C.P.I. = Centro de Prensa Internacional, UPEC = Unión de Periodistas de Cuba)
Domingo. el 24. de Abril 1994:
Auf der Rampa
Er fragte, ob ich Sternzeichen Fisch sei. Non. Leo? Si … Löwe sei ein starker Typ. Und stolz außerdem. Er wurde mir zu aufdringlich. Was wollte er mir anbieten? Um die Situation für mich zu entspannen, machte ich ein weiteres Bild von der Mädchengruppe.
Er ließ nicht nach und fragte mich beleidigt, warum ich mir denn keine Zeit für ihn nehme. Dies aber nicht hier auf der Rampa, sondern irgendwo, wo wir uns bequemer hinsetzen könnten, damit er mir ungestört seine Geschichte erzählen könne. Ich drehte mich um, winkte kurz, und ging auf Umwegen zurück zu meiner Wohnung.
Sabado, el 23. de Abril 1994:
Spaziergang in Habana Vieja, Kubanischer Abend in einer Discobar.
Es ist unglaublich schwül. Sogar die kleinen Haustierchen in meinem angemieteten Appartment in Vedado fallen ohnmächtig von den Wänden herunter, so daß ich sie problemlos in einer Schachtel einsammeln kann.
Herausgeputzte junge Frauen und Männer genehemigten sich für US-Dollars einen schönen Abend bei Bier, Rum, Musik und Tanz in der Bar des Touristenhotels. Dass dieser Club bereits von der Seguridad de Estado argwöhnisch beobachtet wurde und zwei Wochen später geschlossen wird, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
(C.P.I. = Centro de Prensa Internacional)
Viernes, el 22. Abril 1994:
Spaziergang und erste Orientierung in meinem Wohnquartier in Vedado.
Der lange Betonblock des ex-Hilton Hotels, nach der Revolution zu „Habana Libre“ umbenannt, erhebt sich mit seinen 25 Stockwerken majästetisch vor meinen Fenster im dritte Stock eines grauen und ruhigen Wohnhauses, in dem ich für die nächsten 6 Wochen privat ein kleines 2 Zimmer Appartment mit Kochnische angemietet habe.
Heute gibt es Strom und Wasser. Im leeren Kühlschrank verstaue ich meinen gesamten Filmvorrat für meine Fotoreportage. Ca 150 Ektachromes und 40 Patronen Tri-X warten darauf meine Bilder aufzuzeichnen. Diese stattliche Anzahl soll voraussichtlich rein rechnerisch meinen durchschnittlichen Bedarf von ca 4 Farbfilmen und 1 Schwarzweiss-Film pro Tag decken. Nachmittags kommt Feliberto vorbei, um mit mir meine Pläne zu besprechen und die Vorgehensweise abzustimmen.
Jueves, el 21. de Abril 1994:
Über dem Ozean und die erste Nacht in La Habana.
„Chaleco salvavidas debajo de su asiento“ steht auf dem kleinen Schild der Sitzlehne vor mir. Frankfurt liegt schon längst im Rücken, und in der überklimatisierten DC-10 der venezuelanischen Fluggesellschaft Viasa frösteln mir allmählich die Füße.
Vor mir liegt noch einige Flugstunden entfernt Caracas, von wo aus es mit einem Anschlußflug über das karibische Meer weiter nach La Habana geht. Mit einem Kopf voller Gedanken, Pläne, Erinnerungen, Wünschen, Erfahrungen und Neugierde lasse ich mich auf mein Vorhaben zubewegen: mein Projekt „Kubareportage 1994“. Abends folgte die fast pünktliche Landung am Aeropuerte José Marti . . .
Trotz sechsstündiger Zeitverschiebung drängt es mich noch einmal raus, und ich komme nach einem Besuch bei kubanischen Freunden gegen drei Uhr morgens mit einem wilden Taxi zurück in mein neues Zuhause in calle N Ecke fünfundzwanzigste Straße …“
Die Fotografien wurden im Katalog zum „Deutschen Photopreis“ und „Internationalen Preis für Jungen Bildjournalismus“ publiziert und in vielen weiteren Ausstellungen gezeigt. Einige davon befinden sich in öffentlichen und privaten Kunstsammlungen.